Auf dem Weg der Liebe zu mehr Klarheit und Leichtigkeit


Erzählungen


Handschrift
(eine Erzählung)

Sie barg ihr Herz in ihren Worten, die aus vergessenen Gedanken Spuren ihrer selbst hinterließen. Spuren, in die nur ihre Schritte passten, und Spuren, die durch die Rinnsale ihrer Tränen und mit den Melodien ihres Lachens schwer über die Berge hinauf und leichtfüßig über die Hänge hinab führten. Kein Tropfen Schweiß auf einem Anstieg, dem nicht der Frohsinn über die Leichtigkeit des Abstiegs folgte. Unverwechselbare Spuren, verwurzelt in der Erdenmutter und - wenngleich die Abdrücke ihrer selbst heute nicht mehr sichtbar sind - so liegt doch kein Steinchen an dem Ort, an dem es liegen würde, wäre sie hier nicht gegangen.
Anna war ihr Name und sie lebte in einem dieser kleinen Dörfer in der Nähe der Stadt. Die Zeiten, in denen junge Frauen mit ihren Männern und Kindern sonntags in ihren Trachten in die Kirche gingen, in denen an den Nachmittagen unter der Woche die Kinder die Marend auf die Felder brachten und die Männer ihre Frauen nachts nahmen statt sie zärtlich zu berühren und… dann verloren, waren vorbei. Anna war sich ihrer selbst bewusst, sie folgte dem Rufen ihres Herzens und setzte ihre Schritte. Vielleicht war es Rache an den vielen Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen, die ihre Vorfahrinnen erlebt hatten, dass sie eines Morgens Haus und Hof, Mann und Kinder verließ. Der Hof war angesehen und groß, die Kinder aufgeweckt und gesund, ihr Mann fleißig und aufmerksam. Und trotzdem. Anna ging. Sie ging hinaus in eine unbekannte Welt, getrieben von ihrer Unruhe, ihrer Ahnung, dass da noch mehr war, getrieben von ihrer Hoffnung, dass sie finden würde, das, was sie noch nicht genau zu benennen vermochte. Irgendwie spürte sie, dass dies das Tor zu ihrem Werden war, und sie war mutig genug, es zu öffnen. Kaum ein Mensch verstand ihren Entschluss und ihre Schritte. Doch Anna hielt den Rücken aufrecht und achtete nicht auf die Steine, die man aus dunklen Verstecken auf sie schleuderte. Manchmal lag sie in den dunklen Nächten wach und wurde gequält, ob diese Sehnsucht nach mehr Gottes Wunsch oder des Teufels Fluch war. Doch wenn sie morgens aufstand, waren ihre Gedanken wieder klar, und sie wusste und setzte ihren Weg fort.
Die Worte, mit denen sie sehr viel später diesen Weg beschrieb, flossen langsam und besonnen aus ihrer Hand. Eigentlich schrieb sie über und aus Liebe. Heimatliebe, Lebensliebe, Gedankenliebe, verlorene Liebe, geschenkte Liebe, verfluchte Liebe. Weit zogen sich ihre Spuren dahin und doch immer auf dasselbe Ziel gerichtet. Viele Irrwege war sie gegangen, bis sie - endlich - hierher gekommen war. Sie lächelte, als sie am Ende ihre Worte las. Wie konnte sie so lange am Weg gewesen sein und so lange über diesen Weg geschrieben haben, um dann zu erkennen, dass sie - etwas müde und erschöpft, etwas leiser und älter, in sich selbst gelandet war. Anna lächelte, und das tiefe Leuchten ihrer Augen wischte die Schatten über ihrer sorgfältigen und erfahrenen, wenngleich schon etwas zittrigen Handschrift, hinweg.
 


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