Auf dem Weg der Liebe zu mehr Klarheit und Leichtigkeit


Erzählungen


Vom Mädchen, das auszog, das Böse zu lieben
(ein Märchen)

Es war einmal ein Herr Tunichtgut. Er lebte in einem alten, dunklen, unfreundlichen Haus in Bösenbach. Als ihm seine Frau ein kleines Mädchen schenkte, verjagte er sie mit diesem in der dritten Vollmondnacht nach der Geburt aus seinem Hause, da er das vom Hunger geschwächte Jammern des frierenden Kindes nicht mehr hören wollte.

Die junge Mutter irrte einige Tage durch den großen, dunklen Wald, suchte nach letzten Pilzen und Beeren für sich und das Kind und einen Weg aus ihrer Verzweiflung.
Doch bitter schlug das Schicksal sein Beil über das Leben der unglücklichen Mutter. Als sie eines Morgens das Mädchen in sicherem Schlafe wusste, stahl sie sich von dem geschützten Platze leise fort, um nach Nahrung zu suchen. Dabei aber wurde sie von einem großen Bären erschlagen.

Das kleine Mädchen war bald nach dem Fortgehen der Mutter aufgewacht. Es fror und hatte Hunger. Die Wölfe waren es, die schließlich das Weinen der Kleinen vernahmen und sie in ihre Höhle brachten.
Dort gaben sie ihr zu essen und zu trinken, sie gaben ihr Wärme und beschützten sie fortan, so gut sie dieses vermochten.

Nun - die Jahre gingen dahin. Das Mädchen hatte gelernt zu leben, es hatte gelernt zu geben, und es hatte gelernt zu nehmen. Vor allem aber hatte es gelernt, mit den Wölfen zu lachen und die Wärme der Sonne zu spüren.

Eines Tages streifte das Mädchen mit den Wölfen durch den weiten Wald. Plötzlich sahen sie in einiger Entfernung das Schloss des Zauberers. Nun war die Zeit gekommen. Der alte Anführer der Wölfe nahm das Mädchen beiseite und erzählte ihm seine Geschichte. Daraufhin begann das Mädchen bitterlich zu weinen, wegen all des Bösen, das es hatte erfahren müssen. Eine ganze Vollmondnacht lang musste der alte Wolf in seinem schnellen Leben innehalten und dem unglücklichen Kinde ein Kissen für bittere Tränen sein.
Dann stand das Mädchen auf. Es streichelte das Fell des Wolfes trocken und küsste seine müden Augen. „Ich danke dir und all den anderen Wölfen!“

Nun packte die Kleine das Allernötigste in einen Beutel und verließ den Wald. Ohne einen Auftrag erhalten zu haben, wusste sie, was zu tun war. Sie machte sich auf den Weg zur guten Fee. Als sie diese gefunden hatte, stellte die Fee ihr drei Wünsche frei. Das Mädchen dachte lange nach und sprach dann:
„Als Erstes möchte ich das Böse in einem Menschen verstehen lernen. Und dann möchte ich das Böse im Menschen vernichten können, ihn vom Bösen befreien. Sonst habe ich keinen Wunsch.“

Die Fee blickte nachdenklich auf das kleine Mädchen und sprach: „Deine Wünsche kann ich dir erfüllen. Doch du musst wissen, dass das Böse in einem Menschen nur vernichtet werden kann, wenn du es liebst. Und das ist sehr, sehr schwer.“ So bat das Mädchen doch noch um einen dritten Wunsch: „Ich möchte das Böse in einem Menschen lieben können“.

Die Fee sprach darauf: „So gehe denn mein Kind. Mache dich auf den Weg. Deine Wünsche werden dir erfüllt.“
Nach drei Vollmondnächten erreichte das Mädchen das Schloss des bösen Zauberers. Als es ihm begegnete, war es von dem vielen Schwarz seiner Bosheit, seiner Gemeinheiten, seiner Hinterhältigkeiten beinahe geblendet. Sie blickte ihn an, sah in der Tiefe seiner zornigen Augen diese hilflose Einsamkeit, in den Falten seines alten Gesichtes die lieblos verkrusteten Narben der Wunden seiner Kindheit und in den starren, blassen Umrandungen seiner harten Lippen die laute, leere Ausdruckslosigkeit seiner nie ausgesprochenen und längst vergessenen Träume. Und wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Sie verstand ohne zu wissen.

Sie hob den Blick, und eine Träne klammerte sich für einen kurzen Augenblick an ihre Wimpern, bevor sie den Weg zu seinem und ihrem Herzen fand.
Das böse Brüllen des Zauberers verlor sich im Gesang der Vögel, und sein fürchterlicher Blick umfing die zarte Gestalt des Mädchens mit den zerbrechlichen Flügeln pastellblasser Schmetterlinge.

Ja - und so erfüllte sich wie von selbst der dritte Wunsch. Eine herzliche Liebe wuchs in dem Mädchen zu diesem alten, verbitterten Mann. Wohl gab es Zeiten, in denen sein Zorn wieder laut wurde, doch fand er immer und immer wieder ein weiches Netz in ihrer Liebe. Ihr Lachen und ihre Zuneigung erwärmen wohl heute noch die eisige Kälte seines Herzens.
 


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